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Das Seltsamste jedoch geschah, als Sofie wieder aufstand und Alberto ansah, der immer noch auf der Türschwelle stand. Plötzlich sah sie in ihm ein ganz außergewöhnliches Wesen, etwas wie einen Menschen von einem anderen Planeten vielleicht oder wie eine Märchengestalt aus einem anderen Märchen als dem, das sie gerade erlebte. Und zugleich erlebte sie auch sich selber auf eine ganz neue Weise als einzigartige und außergewöhnliche Person: Sie war nicht nur ein Mensch, sie war nicht nur eine Fünfzehnjährige -sie war Sofie Amundsen, und nur sie war das!
»Was siehst du?« fragte Alberto.
»Ich sehe, daß du ein komischer Vogel bist.«
»Wirklich?«
»Ich glaube, ich werde nie verstehen, wie es ist, ein anderer Mensch zu sein. Keine zwei Menschen auf der ganzen Welt sind doch ganz gleich.«
»Und der Wald?«
»Der hängt nicht mehr zusammen. Er ist ein ganzes Universum aus lauter erstaunlichen Märchen.«
»Hab ich's mir doch gedacht. Die blaue Flasche ist der Indivi dualismus. Er war Sören Kierkegaards Reaktion auf die Einheitsphilosophie der Romantik. Und Kierkegaards Zeitgenosse war nicht zufällig der Märchendichter Hans Christian Andersen. Er hatte denselben scharfen Blick für den unendlichen Detailreichtum der Natur. Leibniz hatte ihn hundert Jahre früher auch schon besessen und auf Spinozas Einheitsphilosophie genauso reagiert wie Kierkegaard auf Hegel.«
»Ich höre, was du sagst, aber du kommst mir gleichzeitig so komisch vor, daß ich losprusten könnte.«
»Ich verstehe. Dann trink einfach noch einen kleinen Schluck aus der roten Flasche. Und dann setzen wir uns hier auf die Treppe. Wir müssen noch etwas über Kierkegaard sagen, ehe wir für heute Schluß machen.«
Sie setzten sich, und Sofie trank einen kleinen Schluck aus der roten Flasche. Nun flossen die Dinge wieder zusammen, allerdings ein bißchen zu sehr, denn wieder hatte Sofie das Gefühl, daß kein Unterschied mehr irgendeine Rolle spielte. Sie berührte schnell den Hals der blauen Flasche mit der Zunge, und die Welt wurde ungefähr so, wie sie gewesen war, bevor Alice die beiden Flaschen gebracht hatte.
»Aber was ist wahr?« fragte Sofie nun. »Verschafft uns die rote oder die blaue Flasche das richtige Erlebnis davon, wie die Welt wirklich ist?«
»Beide, Sofie. Wir können nicht sagen, daß sich die Romantiker geirrt haben. Aber vielleicht waren sie ein bißchen einseitig.«
»Was ist mit der blauen Flasche?«
»Ich glaube, aus der hatte Kierkegaard ein paar ganz tiefe Schlucke getrunken. Er hatte jedenfalls ein überaus scharfes Auge für die Bedeutung des Individuums. Wir sind aber auch nicht nur >Kinder unserer Zeit<. Jeder und jede von uns ist außerdem ein einzigartiges Individuum, das nur dieses eine und einzige Mal lebt.«
»Das hatte Hegel scheinbar nicht sonderlich interessiert?«
»Nein, dem ging es eher um die großen Linien in der Geschichte. Und genau das hat Kierkegaard geärgert. Er meinte, die Einheitsphilosophie der Romantiker und Hegels Historismus hätten dem Individuum die Verantwortung für sein eigenes Leben abgenommen. Für Kierkegaard waren Hegel und die Romantiker aus genau demselben Holz geschnitzt.«
»Ich kann verstehen, daß er wütend wurde.«
»Sören Kierkegaard wurde 1813 in Kopenhagen geboren und von seinem Vater sehr streng erzogen. Von seinem Vater hatte er auch eine religiöse Schwermut geerbt.«
»Das klingt nicht so gut.«
»Nein. Wegen dieser Schwermut fühlte er sich als junger Mann sogar gezwungen, eine Verlobung zu lösen, was vom Kopenhagener Bürgertum gar nicht gut aufgenommen wurde. So wurde er früh zu einer ausgestoßenen und verspotteten Person.
Naja -und mit der Zeit biß er selber auch ganz schön scharf um sich. Mehr und mehr wurde er zu dem, was Ibsen später als >Volksfeind< bezeichnet hat.«
»Alles wegen einer gelösten Verlobung?«
»Nein, nicht nur deshalb. Vor allem gegen Ende seines Lebens wurde er ein immer schärferer Kritiker der ganzen europäischen Kultur. Ganz Europa sei unterwegs in den Bankrott, meinte er. Er glaubte, in einer Zeit ohne Leidenschaft und Engagement zu leben, und wetterte gegen die laue und laxe Haltung der Kirche. Seine Kritik am sogenannten >Sonntagschristentum< war alles andere als rücksichtsvoll.«
»Heute sollten wir wohl eher vom >Konfirmationschristentum< reden. Die meisten lassen sich doch nur noch wegen der Geschenke konfirmieren.«
»Ja, da hast du recht. Für Kierkegaard war das Christentum gleichzeitig so überwältigend und so vernunftwidrig, daß es nur ein Entweder -Oder geben konnte. Es sei unmöglich, meinte er, >ein wenig< oder >bis zu einem gewissen Grad< Christ zu sein. Denn entweder sei Gott am Ostersonntag auferstanden -oder nicht. Und wenn er wirklich von den Toten auferstanden sei, wenn er wirklich um unseretwillen gestorben sei -dann sei das so überwältigend, daß es unser ganzes Leben prägen müsse.«
»Ich verstehe.«
»Kierkegaard merkte nur, daß die Kirche und die meisten Christen seiner Zeit eine geradezu schulmeisterliche Einstellung zu religiösen Fragen hatten. Für ihn selber war das undenkbar. Religion und Vernunft waren für ihn wie Feuer und Wasser. Es reiche nicht, das Christentum für >wahr< zu halten, meinte er. Christlicher Glaube bedeute, in Jesu Fußstapfen zu treten.«
»Und was hatte das mit Hegel zu tun?«
»Oh. Vielleicht haben wir am falschen Ende angefangen.«
»Dann schlage ich vor, du schaltest den Rückwärtsgang ein und fängst noch mal von vorne an.«
»Kierkegaard nahm schon mit siebzehn Jahren sein Theologiestudium auf, interessierte sich dann aber mehr und mehr für phi
losophische Fragen. Mit 28 machte er mit der Abhandlung >Der Begriff der Ironie mit ständiger Beziehung auf Sokrates< seinen Doktor. Darin rechnet er ab mit der romantischen Ironie und dem unverbindlichen Spiel der Romantiker mit der Illusion. Der romantischen stellte er die >sokratische lronie< gegenüber. Auch Sokrates hatte sich ja des Stilmittels der Ironie bedient, aber nur, um seine Zuhörer zu noch größerem Lebensernst zu erziehen. Sokrates war für Kierkegaard, im Gegensatz zu den Romantikern, ein existentieller Denker, das heißt, einer, der seine ganze Existenz in seine philosophische Reflexion miteinbezieht. Den verspielten Romantikern unterstellte er, daß sie das nicht täten.«
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